Paavo Järvi setzt mit dem Lucerne Festival Orchestra völlig neue Maßstäbe / Von Jan Brachmann, Luzern

Frankfurter Allgemeine Zeitung

16.08.23

Abbados würdiger Nachfolger
Paavo Järvi setzt mit dem Lucerne Festival Orchestra völlig neue Maßstäbe / Von Jan Brachmann, Luzern

Applaus kann ein Blitzableiter des in den Untergang getrieben werde.
Schocks sein. Mit einer Mischung aus Er Järvi macht das Scherzo zu einer bruschrockenheit und Begeisterung wird talen Spott- und Verhöhnungsmusik und sich das Publikum des Lucerne Festivals hat damit recht. Denn das Thema ist ja im Kultur- und Kongresszentrum be- nur der nach Dur gewendete, um den
wusst, ein musikalisches Erdbeben erlebt Auftakt verkürzte Anfang des Chorals
zu haben. Paavo Järvi hat die vierte Sym- „O Haupt voll Blut und Wunden, voll
phonie von Johannes Brahms mit dem Schmerz und voller Hohn, o Haupt, zum
Lucerne Festival Orchestra zu einer Auf- Spott gebunden mit einer Dornenkron".
führung gebracht, wie man sie lange Brahms reicht die Originalgestalt sogar
nicht mehr erlebt hat: keine herbstliche im Satzverlauf nach. Järvi schärft den
Nostalgie, kein melancholisches Behagen Orchesterklang an zu einer Geißelungs-
in der Akzeptanz von Vergänglichkeit, orgie mit Triangelspaß.
sondern das, was der Dirigent relix
Schon der erste Satz beginnt thema Weingartner, Brahms' Zeitgenosse, darin tisch mit den Anfangstönen des Pas-
hörte: die Dynamik, mit der „ein Einzel- sionschorals „Mein Jesu, der du mich
ner oder ein ganzes Volk" erbarmungslos zum Lustspiel ewiglich dir hast erwäh-
dem gleichen Choral in der gleichen einem ein lieb gewordenes Werk so wohl-Tonart, mit dem Brahms später sein letz- begründet grausig in die Knochen fährt.
tes Werk, die elf Choralvorspiele für Or- Järvi, Chef des Zürcher Tonhalle-Or-gel op. 122, eröffnen wird. Järvi, der alle chesters und des Estonian Festival Or-Brahms-Symphonien profund nach den chestra, ist hier in Luzern für den - ein-historischen Quellen mit der Deutschen mal mehr sehr kurzfristig - erkrankten Kammerphilharmonie Bremen erarbei- Riccardo Chailly, offiziell Chef des Lu-tet hat, geht ohne Weinerlichkeit in den cerne Festival Orchestra, eingesprungen Satz hinein: fließend, fast federnd leicht, und hat dessen Programme unverändert was bei der großen Orchesterbesetzung übernommen. Für das Orchester wie für in Luzern erstaunlich gelingt. Bald be- das Publikum ist das ein Glücksfall. Das merkt man, etwa in den kanonischen Orchester zeigt Qualitäten, die hier lan-Verkeilungen des Themenkopfes zwi ge nicht mehr abgerufen wurden. schen Hörnern und Celli, dass hier eine Das Publikum bekommt in Gustasunerbittliche Logik wühlt, die Järvi ganz Mahlers dritter Symphonie statt eines transparent hält, während er auf der großformalen Ebene Kontrastflächen
pauschal lärmenden Grandioso eine luft-
zwischen scharfen Konturen und Verne-
geisterhafte Heiterkeit in den Mischungen zwischen Holzbläsern und Solovioli-
belungsfeldern herstellt.
Aus dieser ne zu hören, ein kindliches Spiel von
Transparenz der Logik und dem Kontrast Piccoloflöte und Rassel, das immer wie-in der Architektur entwickelt sich die der ins Militärische umschlägt. Wenn der Dramatik des Satzes.
Intendant Michael Haefliger „Paradies"
Der Schluss der Durchführung, in der als Motto über diese Festivalsaison ge-Beethoven'schen Tradition eigentlich die schrieben hat, dann streicht Järvis Inter-größte Zuspitzung, ist bei Brahms der pretation von Mahlers Dritter
Moment der Erschlaffung, nach dem die Wunschbild von Kindheit als biographi-Reprise nur noch Resignation sein kann. scher Paradies-Epoche durch. Kindheit
Auch dieser Augenblick folgt bei Järvi der inneren Logik der Musik. Brahms ist in Järvis hintergründiger Lesart ein enthüllt hier sein Konstruktionsprinzip
Synonym für Empathielosigkeit,
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polymorph-perverses Austesten
und rollt den Choralanfang zu einer lan- Freiheitsräumen. Unschuld heißt hier gen Terzenkette ab. Was einmal Bedeu- nur: fehlendes Bewusstsein von der eige-tungsträger war, wird zum Material ra-tionalisiert,
diedarinliegende nen Grausamkeit. Wiebke Lehmkuhl
Verheißung entzaubert. Logische Schlüs- singt ihr „ Mensch! Gib Acht'" nach sigkeit und existenzieller Sinn fallen auf Friedrich Nietzsches Versen geheimnis-tragische Weise auseinander. Genau die voll und fern, ohne barmendes Espressi-se Enthüllung, die Offenlegung des rein vo, gerade dadurch überzeugend. Die
von Peter Dikstra einstudierten Damen
Techmischen, versinkt im Nebel: Die Ein- des Chors des Bayerischen Rundfunks
sicht selbst ist es, die traurig macht.
Die zerstörerische Energie, die Järvi und die Kinder der Luzerner Kantorei, dann in der Coda des ersten Satzes auf- vorbereitet von Eberhard Rex, singen mit glühen lässt, findet in der Hinrichtungs- dem Ton heiteren Berichtens, episch Abstand haltend. Vokales Einfühlungstheamusik des Finalsatzes ihre Bekräftigung:
Noch ein liebevoller Blick zurück auf die ter wird hier nicht gespielt. Erst im inst-
rumentalen Hohelied der Liebe, im
Welt, wie sie war, und dann stracks nach Finale der Symphonie, stellt sich der Dorrein die k Aistath e leit dendet ien Eindruck warmherzigen Beiptlichtens der fünften Symphonie von Ludwig van ein - bei Järvi völlig organisch, aus Puls Beethoven, das den Finaltriumph in den und Linie entwickelt, nicht als Ausdruck
Terror der Revolution umkippen lieB, seit im Sinne eines Drucks von außen.
Von Mahlers ursprünglichem Titel für
diesem blutrünstig schreienden C-Dur den zweiten Satz der Symphonie, Was hat man bis zu Järvis Aufführung von mir die Blumen erzählten", mag auch der Brahms' Vierter kein Interpretationser- Titel „Blumen" inspiriert sein, den Enno eignis mehr erleben konnen, bei dem Poppe seinem Auftraeswerk für das Lu-

cerne Festival und das Ensemble Inter- freilich ein Klangbild von Brahms, das contemporain gegeben hat. Es nimmt altvertraut und beruhigend wirkt, das auf originelle und sympathische Weise nicht erschüttert, sondern birgt. Und die das Verfahren eines romantischen Mi- 104. Symphonie von Joseph Haydn mit niaturzyklus wieder auf: Jeder der fünf- einem derart saftigen, durch vitales Es-zehn kurzen Sätze ist aus einer einzigen pressivo angereicherten Orchesterklang Idee heraus entwickelt, einer Ereignis- erleben zu dürfen gehört inzwischen zu folge, einem Klangidiom, einer Spielfi- den raren Ereignissen aufführungsprak-gur oder einer Intervallkonstellation. tischer Verspätung Äußerst plastisch und fasslich, doch je Wie anders hatte das Lucerne Festival
des Mal überraschend. Ohne eine Spur Orchestra geklungen, als Paavo Järvi die
von Abtalligkeit erzahlt Poppe
im zarte Maria Jõao Pires in Wolfgang Ama-
Podiumsgespräch mit Mark Sattler, dass dé Mozarts Klavierkonzert KV 271 be-ein Ensemblemitglied sich durch eine gleitete! Einen Schutzraum delikatester Dreitonfolge an Sergei Rachmaninow er- Grazie baute Järvi um seine Solistin, die innert fühlte - ein Einfluss, den Poppe sich am Klavier mit tastendem Portato nicht ausschließen wollte.
behutsam einer Andacht widmete. Als Lahav Shani, der designierte Chefdiri- sie dann gemeinsam das Andante aus gent der Münchner Philharmoniker, Mozarts Klavierkonzert KV 467 zugaben zeigt sich hier in Luzern mit dem Israel - im Gedenken an den 90. Geburtstag Philharmonic als immense dirigentische des Orchestergründers Claudio Abbado Begabung. In Gestik und Klangvorstel- -, schwebten sie und das Orchester, uns lung spürt man sofort, was er seinem beschenkend aus der Ferne, in den Him-Mentor Daniel Barenboim verdankt. Die mel. Von Mozart bis Mahler hat Paavo Klangübertragung aufs Orchester funk- Järvi hier in Luzern, einem Epizentrum tioniert auch hervorragend: Man hört, in der Orchesterkunst, neue Maßstäbe des Brahms' erster Symphonie: dunkel, satt, Dirigierens gesetzt. Wer immer hier, mit warm und schwer, was Shani zeigt. Es ist diesem Orchester, künftig antritt, wird sich daran messen lassen mussen.

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