Genial ungesund mit unfassbaren Illuminationen

Kreiszeitung.de
21.09.2011

Die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen produziert im Pier 2 die Sinfonien Robert Schumanns – als Film

Bremen - Von Tim SchomackerPaavo Järvi steht in einem bescheidenen Backstageraum. Immerhin hat der Dirigent Weserblick. Rechts ist ein Stückchen des flussnahen Einkaufszentrums zu sehen.
Kammerphilharmonie mit Kamera: Paavo Järvi dirigiert im Pier 2 Schumanns Sinfonien.

Kammerphilharmonie mit Kamera: Paavo Järvi dirigiert im Pier 2 Schumanns Sinfonien.

Unten vor dem „Pier 2“ stehen kleine Grüppchen von Schülern zusammen. Dazwischen eher klassisches Kammerphilharmoniepublikum. Er sei sich immer noch nicht sicher, ob Musik in erster Linie gehört oder doch als Film angeschaut werden sollte, sagt der 48-Jährige. Und nimmt einen Schluck aus der Wasserflasche. Der Dirigent räsoniert einen Moment lang über MTV. Was aber nicht sonderlich weit führt, schließlich wird gegenwärtige Musik eingedenk 30 Jahren Musikfernsehen gemacht. Das klassische Repertoire wie die vier Schumann-Sinfonien, die die Kammerphilharmonie in dieser Woche für den Bildträger einspielt, ist da doch eher starr. Bildlich gesprochen.

Ganz so Industriearchitektur wie Kammerphilharmonie-Manager Hans Otto meint, ist das „Pier 2“ nicht mehr. Dafür ist es zu sehr in Richtung Konzerthalle umgebaut worden. Sonst spielt hier Farin Urlaub oder Milow. Demnächst kommt „Cindy aus Marzahn“. Nun denn. Klar sei das keine klassische Konzerthalle, meint Järvi, aber die klanglichen Bedingungen seien besser als er gedacht habe. Oder befürchtet? „Der Ort ist interessant, weil wir die Sinfonien aus der eher akademischen Heimat herausholen. Weil wir akustische Musik machen, muss der Raum für uns arbeiten.“ Und das Publikum auch. An den Vormittagen arbeitet die Kammerphilharmonie an Schumanns sinfonischen Werken als solchen. Die Abendaufführungen ergeben schlussendlich einen Konzertfilm mit Interviews und Probenausschnitten. Eine Kombination wie bereits bei der DVD-Einspielung der Beethoven-Sinfonien.

In Fortsetzung ihres Bildungsengagements – zuletzt war in Tenever die Produktion „Polski Blues“ zu sehen – hat die Kammerphilharmonie die Plätze teuer an ihr Stammpublikum verkauft. Die Karte kostet 111 Euro – und ermöglicht gleichsam als Patenschaft einem Schüler oder einer Schülerin „aus benachteiligten Bremer Stadtteilen“. Was im Umkehrschluss natürlich den optischen Mehrwert bedeutet, dass auf der DVD dann nicht nur ein jüngerer Austragungsort als etwa „Die Glocke“ zu sehen ist, sondern auch das eine oder andere jüngere Gesicht.

Kurz bevor es losgeht, das Orchester hat bereits Platz genommen, hält Kammerphilharmonie-Geschäftsführer Albert Schmitt die Beethoven-Box hoch, berichtet kurz von den Kritik-Loorberen, die man damit eingeheimst habe. „Aber es ist auch ein ganz schöner Werbefilm für Bremen“. Zum Image gehören auch die Sitzgruppen aus weißem Kunstleder in Orchesternähe, auf denen vornehmlich das jüngere Publikum sitzt. Dahinter sind die Stühle grau und aus Kunststoff. Nach dem instrumentalen Aufwärmen betritt Järvi die Bühne. An Schumann schätze er die emotionalen Extreme, hat er vorhin gesagt, dieses charmante und geniale Ungesunde. „Etwas später geboren, wäre Schumann bestimmt ein passabler Freud-Patient geworden.“ Diese hübsche Vorstellung gilt es jetzt ebenso auszublenden wie den immer wieder auf sein Pult langsam zufahrenden Kameraarm. Oder die unfassbaren Illuminationen an den rückwärtigen Wänden.

Paavo Järvi ist sicher ein dankbarer Dirigent für Filmaufnahmen. Die zweite Symhonie beginnt mit der langsamen Verschlingung von Bläsern und Streichern. Später wird Järvi Akzente geradezu ins Orchester werfen, die Dynamik des Schlusssatzes herauskitzeln.

Das Publikum ist in einer eigenartigen Doppelrolle. Es muss da sein, wegen der Atmosphäre. Zugleich ist es durch einen unsichtbaren Vorhang vom Geschehen getrennt. Gewissermaßen als Ausgleich darf man nach einer längeren Pause den Korrekturen beiwohnen. Als sprichwörtliche „Masters Voice“ erklingen die knappen Ansagen von Tonmeister Philip Traugott, der an dieser Stelle jene Korrektur-Funktion übernimmt, die sonst der Dirigent hat.

„Wir wollen uns zeigen, während wir Musik machen“, hat Järvi vorhin in der kargen Garderobe gesagt. Und wie man an den Aufnahmen arbeiten muss. Ein Großteil der Schüler ist bereits weg. Vielleicht, weil es schon nach zehn ist und sie noch keine 16 sind.

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