Ohne jedes Klischee

fr-online.de
 Bernhard Uske
06/03/2015
 

Sensationell: Paavo Järvi dirigiert das HR-Sinfonieorchester in der Alten Oper Frankfurt durch die 1. Sinfonie von Dmitrij Schostakowitsch, wie man es noch nie gehört hat. Obwohl es ausgezeichnete Aufnahmen gibt.

Vier statt der sonst bei ihm üblichen drei Wangenküsse gab Paavo Järvi diesmal beim HR-Sinfoniekonzert bei der Blumen-Übergabe durch eine der Damen des Service-Personals. Vermutlich war es die Leistung des Orchesters, die den „Conductor Laureate“ der Frankfurter Radio-Sinfoniker zu dieser Geste hinriss.
In der Tat, was in Gestalt der 1. Sinfonie Dmitrij Schostakowitschs in der Alten Oper geboten wurde, war des höchsten Lobes würdig. Nicht allein die Tatsache, endlich einmal nicht die ewig gleichen stalinistisch regulierten Sinfonien zu erleben, die immer eine merkwürdige Koinzidenz aus Kunst-Knechtung und Publikumsbegeisterung auslösen, war beachtlich. Vielmehr: wie dieser sinfonische Erstling des gerade einmal 19-jährigen Leningrader Konservatoriums-Diplomanden jetzt in Frankfurt erklang.

Einspielungen von Kondraschin, Caetani, Jansons

Man kennt viele hervorragende Aufnahmen dieses so vielgestaltigen Werks von Kyrill Kondraschin über Oleg Caetani bis Mariss Jansons. Aber keine Darbietung hat solch ein Maß an Differenzierung, solche Feinheit, ja Raffinesse, aber auch solch vitalistischen Schwung und solch packende Schärfe zu bieten wie das, was das gebannte Publikum im Großen Saal erleben durfte.
Beim regulierten Schostakowitsch ist es immer das Klischee des Opfers in grau, in trüb und schwer. Beim noch unzensierten ist es das des Bizarren, Sarkastischen, Doppelbödigen. Beides greift bei Järvi nicht. Schon der allererste Schostakowitsch ist bei ihm sowohl bizarr als auch melancholisch, auf Düsteres, ja Trauermarschhaftes, aber auch Bukolisches und Grelles aus.
Ein Mixtum Compositum, das der jungen sowjetischen Musik die Errungenschaften eines Mahler, Strawinsky, Skrjabin auf zersetzte und neu legierte Weise hinzu gewann. Überragend die fragilen, in wenigen Noten und leichtem farblichem Auftrag schillernden Klang-Aggregate, gefolgt von dreinfahrenden Schnitten und Turbulenzen, die immer auf konstruktivistische Ordnung hin transparent blieben.
Leider akustisch völlig verschenkt war das Tripel-Konzert Ludwig van Beethovens, wo die Platzierung der engagierten Solisten Nicholas Angelich (Klavier), Gil Shaham (Violine) und Anne Gastinel (Violoncello) ein diffus wisperndes und klopfendes Bewegungsprofil der beiden Streicher im Hintergrund des über-dominanten Klaviers ergab. Blendend und pointiert zugleich in romantischem Fluss Robert Schumanns „Ouvertüre, Scherzo und Finale E-Dur“.

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