Paavo Järvi: „Neujahrskonzert in Wien würde ich nicht ablehnen“

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Markus Schramek
16.01.2020

Dirigent Paavo Järvi im Gespräch über seine Zeit in der Sowjetunion, seine Rolle als Orchesterleiter und die spezielle Beziehung zu Österreich.



Paavo Järvi jettet als Dirigent um die Welt. Heimisch fühlt er sich in Estland, wohin er seit dem Fall der Sowjetunion oft zurückkehrt.
© Foto TT/Rudy De Moor
Letztes Update am Donnerstag, 16.01.2020, 05:32


Der 2019 verstorbene Dirigent Mariss Jansons und Andris Nelsons, der heuer das Neujahrskonzert in Wien leitete, stammen aus Lettland. Sie stammen als gebürtiger Este ebenfalls aus dem Baltikum. Ist diese nordöstliche Ecke Europas ein musikalisch besonders fruchtbarer Boden?

Paavo Järvi: Die baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen waren lange Zeit von der Sowjetunion besetzt. Um den eigenständigen Charakter zu bewahren, musste man in diesen Ländern kreativ sein. Kunst, Musik und Literatur boten sich als Stimme an in einem staatlichen Regime, in dem es keine Meinungsfreiheit gab.

In Mitteleuropa betrachtet man die baltischen Staaten oft als eine Einheit. Dabei sind die einzelnen Länder doch sehr unterschiedlich?

Järvi: Wir hängen geografisch zusammen, doch wir verstehen kein Wort der jeweils anderen Sprache. Wir Esten gehören zur selben Sprachfamilie wie die Finnen. Mit diesen können wir uns leicht verständigen. Nach dem Fall der Sowjetunion haben die drei baltischen Staaten verstärkt zusammengearbeitet, um zusammen mehr politisches Gewicht zu haben.

1980 traf Ihre Familie die Entscheidung, von Estland in die USA auszuwandern. War das eine Flucht oder eine bewilligte Ausreise?

Järvi: Man darf nie vergessen, dass die Sowjetunion eine brutale Diktatur war, es ist selbst im heutigen Russland ja kaum besser. Jeder wollte damals weg, aber nur wenige konnten das auch. 1980 bot sich eine gute Gelegenheit: Die Russen waren in Afghanistan einmarschiert, und in Moskau standen die Olympischen Spiele bevor. Das Regime erteilte damals viele Ausreisebewilligungen an Bürger, die möglicherweise ihre Stimme gegen das System hätten erheben können.

Als vielbeschäftigter Dirigent sitzen Sie viel im Flugzeug zwischen Europa, Japan und Ihrem Wohnort in den USA. Wo fühlen Sie sich daheim?

Järvi: Ich lebe zwar offiziell in den USA, aber ich halte mich mehr in Europa auf. Ich würde immer noch Estland als meine Heimat bezeichnen. Ich kehre oft dorthin zurück. Als wir damals in die USA auswanderten, war ich erst 18. Ich hätte nie geglaubt, dass ich meine Verwandten und Freunde in Estland jemals wiedersehen würde.

Seit Herbst 2019 leiten Sie das „Tonhalle-Orchester Zürich“, zusätzlich zu Ihren Orchestern in Bremen und Tokio. Wie bringen Sie das zeitlich unter einen Hut?

Järvi: Mithilfe eines sehr guten Teams, das die Termine koordiniert. Ich habe nie eine Orchesterleitung angestrebt, sondern bin gefragt worden, ob ich die Posten übernehme. In Zürich sind wir jetzt in der Kennenlernphase.

Sehen Sie sich als Freund des Orchesters oder als dessen unumstrittener Chef?

Järvi: Ich empfinde mich als Dirigent nicht als hierarchisch höhergestellt. Ich bin ein Musikerkollege, der zu den Stücken, die gespielt werden, eine Meinung hat und versucht, diese ohne Worte zu kommunizieren. Laut zu werden, weil Fehler passieren, ist nicht mein Stil. Tyrannen am Dirigentenpult hat es vielleicht früher gegeben.

Sie haben denselben Beruf ergriffen wie Ihr Vater Neeme Järvi, der auch als Dirigent Karriere machte. Stört Sie nicht der unvermeidbare Vergleich mit ihm?

Järvi: Ich habe kein Problem damit. Denn ich werde mit einem sehr guten Musiker verglichen. Wenn man selber gut ist, wird man auch wahrgenommen. In einer Musikerfamilie dreht sich alles um Musik. Man hat fast keine andere Wahl, als selbst Musiker zu werden. Wenn man sich in die Musik verliebt, dann verliebt man sich eben. Sollte man etwas nicht tun, nur weil es der Vater tut? Mein Vater hat mich nie zur Musik gedrängt. Unser Verhältnis ist sehr eng.

Sie haben eine sehr spezielle Beziehung zum Neujahrskonzert in Wien.

Järvi: Mein Vater hat Aufnahmen der Wiener Philharmoniker gesammelt. Und deren Neujahrskonzert war für uns schon in Estland ein Fixpunkt. Die Familie versammelte sich vor dem Fernseher. Verbotenerweise verfolgten wir das Konzert über das finnische TV, das russische Fernsehen übertrug das Konzert ja nicht. Noch heute sehe ich mir jedes Neujahrskonzert an, auch heuer wieder. Andris Nelsons hat seine Sache als Dirigent sehr gut gemacht, finde ich.

Würden Sie das Neujahrskonzert in Wien gerne einmal selbst dirigieren?

Järvi: Ich habe keine Check-liste von Dingen, die ich noch erledigen möchte. Doch das Angebot, das Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker zu leiten, würde ich ganz sicher nicht ablehnen.

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