CONCERT REVIEW: Trauriger Held

Trauriger Held
Antrittskonzert des neuen Chefdirigenten Paavo Järvi mit "Kullervo"
Von Harald Budweg
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 15.10.2006

FRANKFURT. In imposanter Größe und in vollendeter Dirigierpose war der Mann eine Woche lang im Zentrum Frankfurts an der Kaufhoffassade zu bewundern: Das Riesenbild Paavo Järvis sollte nach dem Vorbild der Fußball-Weltmeisterschaft auch andere als Musikfreunde anlocken. Schließlich sollten Klassikkonzerte nicht Bildungsbürgern vorbehalten sein, hieß es in einer Verlautbarung des Hessischen Rundfunks.

Die werbewirksame, gutgemeinte Geste verkennt allerdings, daß seriöse Konzertveranstaltungen - im Unterschied zu Fußballspielen oder Events à la Justus Frantz, Lang Lang oder "Nokia Night of the Proms" - den Besuchern einige Mühe des Denkens und der Vorbereitung abverlangen, soll der Abend nicht aus bloßer Kulturberieselung bestehen. Und es waren viele Jahre lang gerade die so als elität gescholtenen "Bildungsbürger", die sich dieser Mühe gern und oft auch lustvoll unterzogen haben. Man muß dies auch deshalb betonen, weil gerade der Este Paavo Järvi, der jetzt in der Alten Oper Frankfurt sein Antrittskonzert als neuer Chef des hr-Sinfonieorchesters gegeben hat, es erklärtermaßen seinem Publikum nicht allzu leicht machen wird. Denn im Unterschied zu seinem Vorgänger Hugh Wolff, der dem Spezialistentum eher abhold war, steht der Name Järvis ausdrücklich für die Musik des skandinavischen und baltischen Kulturraums: Werke von Arvo Pärt, Erkki-Sven Tüür, Lepo Sumero, Eduard Tubin und Carl Nielsen werden ganz sicher die Programme der kommenden Jahre prägen - herrliche Musik durchweg, die allerdings Konzentrationsbereitschaft der Konzertgänger voraussetzt.

Und natürlich Jean Sibelius: Mit dessen Frühwerk "Kullervo" op. 7 von 1892 gab Järvi jetzt sein Frankfurter Antrittskonzert. Die Wahl demonstriert einen künstlerischen Anspruch: Mit nahezu 85 Minuten Aufführungsdauer ist die Sinfonische Dichtung", für die neben dem großen Orchester auch noch zwei Vokalsolisten und ein Männerchor benötigt werden, nicht nur ein aufwendiges Werk. Im Vergleich zu benachbarten Kompositionen des Komponisten wie "En saga" op. 9 oder "Karelia" op. 11 oder selbst der Oper "Jungfrun i tornet" ist "Kullervo" ein sehr ambitioniertes Unternehmen. Der Text geht auf das "Kalevala"-Epos zurück, eine Sammlung altfinnischer Runengesänge. In Zeiten des finnischen Unabhängigkeitskampfes traf diese Musik 1892 exakt den Nerv der Zeit. Die Uraufführung geriet zu einem patriotischen Ereignis, obwohl der Mythos weder eine Geschichte des Sieges noch des Märtyrertums ist: Der versklavte Jüngling Kullervo verlebt eine freudlose Jugend, schändet unwissend seine Schwester, zieht aus Verzweiflung in den Kampf und begeht schließlich Selbstmord. Aber er hat sein Volk gerächt, was im Finnland des späten 19. Jahrhunderts als Symbol verstanden wurde.

Sibelius' Schilderung dieser Vorgänge schwankt in fünf ausgedehnten Sätzen zwischen Sinfonik, Chorkantate und Operngesang. Besonders der Dialog des dritten Satzes zwischen Kullervo und seiner Schwester mit eingeblendeten Kommentaren des Männerchors ist als dramatische Opernszene gestaltet. Mit ungemein glutvoll-intensiver Stimmfärbung und enormer Gestaltungskraft verkörperte die schwedische Mezzosopranistin Charlotte Hellekant Kullervos Schwester. Etwas zurückhaltender, doch mit ebenfalls markantem, charakteristischem Timbre sang der finnische Bariton Jorma Hynninen die Titelpartie. Beeindruckend immer wieder auch die Leistung des vorzüglichen Nationalen Männerchors Estlands.

Doch das Zentrum des Abends war zweifellos Paavo Järvi, dem die enge Vertrautheit mit den hr-Musikern nach zahlreichen Gastdirigaten anzumerken war: Mit nicht allzu ausladenden Gesten entfaltete er nicht nur die dramatischen Passagen der Partitur, sondern auch atmosphärisch zauberhafte Inseln der Stille, wobei strukturelle Transparenz auch in tumultuösen Momenten stets zu vernehmen war. Ein überzeugender Auftakt und eine Lanze für Sibelius.

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