Hier ist der wahre Klang

Hier ist der wahre Klang
Immer mehr Dirigentenstars wechseln in junge, kleine Orchester
Von AXEL BRÜGG EMA NN
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 15.10.2006

bbado, Barenboim und Harnoncourt sind aus den alten Beamtenorchestern geflohen, um mit jungen Musikern neu zu beginnen.

Eigentlich ist Alexander Liebreich ein ruhiger Mensch. Aber mitten in der Probe mit dem "Royal Concertgebouw Orchestra" ist ihm der Kragen geplatzt. Da hat er die Partitur zugeknallt, gesagt, daß er so nicht musizieren wolle - und ist gegangen. Das Orchester in Amsterdam ist bekannt als Museum des alten Klanges, und seine Musiker verstehen das Musikmachen gern als erbarmungslose Pflege der Tradition. Besonders hartnäckig sind sie, wenn junge Dirigenten vor ihnen stehen. Dann werden die Partituren mit den Spielanweisungen der Dirigentenlegenden Otto Klemperer, Karl Böhm, Carlos Kleiber oder Bruno Walter aus dem Archiv gekramt, und dann heißt es aus den hinteren Reihen: "Junger Mann, so haben wir das schon immer gemacht, und so werden wir es auch weiterhin machen - egal, was Sie sagen." Das war Alexander Liebreich zuviel. Schließlich war er gekommen, um gemeinsam mit den Leuten vom "Concertgebouw Orchestra" zu musizieren - nicht gegen sie.

Inzwischen ist der 38jährige Dirigent Chef des "Münchener Kammerorchesters", eines relativ kleinen und jungen Ensembles. "Es ist wunderbar, wie nahe die Musiker hier an der Musik spielen, daß jede Probe nur einen Zweck hat: die gemeinsame Suche nach einem eigenen Klang. Sie wollen eine Partitur erforschen, sind neugierig und experimentieren ohne Rücksicht auf Traditionen." Und dann sagt Alexander Liebreich noch: "Es ist wichtig, nicht nur vor den großen, etablierten Orchestern zu stehen und ihnen nicht nur die eigenen Überlegungen zu diktieren. Die wahren Labors der Musik sind die kleinen Ensembles."

Daß junge Musiker junge Orchester suchen, ist verständlich. Aber es sind längst auch die gefeierten Größen des Klassikgeschäfts, die von den Podien der großen philharmonischen Dinosaurier in die Subkultur des Klanges hinabsteigen und ihre Lebensaufgabe in ambitionierten kleinen Ensembles finden. Sie haben mit den Philharmonikern in Wien, München, in New York, Paris, Mailand und Berlin alles erreicht, haben sich jahrzehntelang in den bürokratischen Orchesterstrukturen behauptet, über Tarifabschlüsse debattiert, Dienstpläne respektiert und sich auf die historische Identität der Orchester eingelassen. Nun entdecken sie die neue Lust an der Unmittelbarkeit des Musizierens. In kleinen Orchestern treten sie nicht als Klangdiktator ans Podium, sondern als Primus inter pares.

Nachdem sich Claudio Abbado von den Berliner Philharmonikern getrennt hat, gründete er das "Mahler Chamber Orchestra", das sich aus jungen Musikern zusammensetzt. Wenn er probt, sagt er nicht viel. Er kommt ohne Worte, ohne festgelegte Idee, er macht keine Musik, sondern empfängt sie. Er schlägt den Anfang und bricht nach einigen Takten ab, um - ohne zu korrigieren - zu sagen: "Noch einmal, bitte." Das geht fünf oder sechs Mal so, und irgendwann ist der Klang entstanden, den Abbado für gut befindet. Sein Lob hört sich dann so an: "Und jetzt weiter." Undenkbar in einem großen Orchester.

Daniel Barenboim hat neben seinem Engagement in Chicago die eher kleine Staatskapelle in Berlin auf Hochglanz poliert, aber sein Herz schlägt seit einigen Jahren für das von ihm und Edward Said gegründete "West-Eastern Divan Orchestra". Junge Juden, Moslems und Christen spielen hier gemeinsam. Dabei geht es Barenboim nur in zweiter Linie um die Förderung des Nachwuchses. Viel wichtiger ist ihm der gemeinsame musikalische Raum. Das Reden über die Musik ist beim "West-Eastern Divan Orchestra" immer auch ein Reden über den Nahostkonflikt. Noten sind hier Grundlage einer gemeinsamen ästhetischen Debatte jenseits der Ideologie. Barenboim bringt das "West-Eastern Divan Orchestra" ins Fernsehen, nimmt CDs auf und hat für das kommende Jahr sogar einen Auftritt seines Lieblingsensembles bei den Salzburger Festspielen durchgedrückt. Er schwärmt: "Man merkt bei jedem einzelnen Musiker, daß er immer um Leben und Tod musiziert."

Tatsächlich entdecken auch Plattenfirmen den neuen, unbefangenen Geist der jungen Orchester. Das Traditionslabel RCA (Sony) hat gerade eine Beethoven-CD mit der "Bremer Kammerphilharmonie" herausgebracht, und die Deutsche Grammophon setzt ebenfalls auf einen neuen, ungestümen Beethoven-Klang, wenn sie das "Simón-Bolívar-Orchester" aus Venezuela verpflichtet. Das Ensemble gehört zum "Sistema" der venezuelischen Kulturbehörde, dem weltgrößten Musikerziehungsprogramm, mit dem hauptsächlich Jugendliche aus den Slums für die Musik begeistert werden sollen. Auch der Chef des Orchesters, der Dirigent Gustavo Dudamel, hat seine Karriere dem "Sistema" zu verdanken. Inzwischen steht er vor den größten europäischen Klangkörpern, aber wirklich zu Hause ist er immer noch in Caracas. "Wenn ich nach Venezuela komme, ist das wie eine Frischzellenkur", sagt er, und dann fehlen ihm die Worte, er schlägt sich mit der Hand an die Brust unter seinem knallroten Pullover und schwärmt: "Wenn wir Musik machen, ist das einfach nur babam, babam, babam."

Manchmal kann Dudamel die Ereignisse der letzten Jahre selbst nicht glauben: Simon Rattle, Daniel Barenboim und Claudio Abbado gehören zu seinen Fans. Aber der junge Dirigent macht sich nicht gemein mit dem großen europäischen Klang: "Für die großen Orchester in Europa ist Beethovens Fünfte Sinfonie oft nur noch ein Repertoirestück, das sie tausend Mal gespielt haben und dann zum tausend und ersten Mal herunterrattern", sagt er, "aber für uns in Venezuela ist Beethovens ,Da-da-da- daaa' neue Musik. Es ist eine Sinfonie, in der es um die Geschichte eines Helden geht. Eines Menschen, der ums Überleben kämpft. In Venezuelas Straßen ist das kein Mythos, sondern Realität." Und diese Unbedingtheit hört man auch in seiner Interpretation. Wer dachte, daß neue Beethoven-Einspielungen nicht nötig sind, wird mit den Ensembles aus Caracas und Bremen eines Besseren belehrt.

"Die wirkliche Arbeit am Klang habe ich in den letzten Jahren in Bremen gefunden", sagt der Este Paavo Järvi. Er leitet das "Cincinnaty Symphony Orchestra" und wird bald das "Orchester des Hessischen Rundfunks" übernehmen. "In der ,Bremer Kammerphilharmonie' gibt es keine Proben, die mit dem Verweis auf Tarifverträge oder Arbeitszeiten abgebrochen werden. Hier musizieren alle, weil es ihnen um das offene Abenteuer Musik geht." Die Traditionspflege in etablierten Orchestern findet Järvi bedenklich: "Welcher Wiener Philharmoniker hat schon unter Mozart gespielt?" fragt er. Vielleicht klingen Beethovens Dritte und Achte Sinfonie bei ihm auch deshalb so frisch. "In Ensembles wie in Bremen kann man nicht mit einem fertigen Beethoven im Kopf anreisen, hier wird auch vom Dirigenten Offenheit gefordert - und das macht die Sache so spannend."

"Eigentlich haben die kleinen Ensembles die Idee der Selbstverwaltung von großen Orchestern wie den Berliner Philharmonikern abgeschaut", sagt Järvi, "aber sie haben den großen Vorteil, viel direkter, ohne den historischen Ballast und ohne komplizierte Strukturen musizieren zu können." In Zeiten des Orchestersterbens, der Sparmaßnahmen und der Klassikkrise haben sich viele junge Ensembles vom alten, hierarchischen und subventionierten Orchestersystem unabhängig gemacht. Sie haben erkannt, daß die Selbsterhaltung nicht in ausgeklügelten Finanzmodellen liegt, im Betteln um Subventionen, sondern in der Qualität des Klanges. Und der Erfolg bewegt langsam auch die großen philharmonischen Dampfschiffe.

"Besonders in den Radiosinfonieorchestern erlebe ich, daß viele junge Leute dazugekommen sind, die ihren Job nicht mehr als Musikbeamte ausführen", sagt Järvi, "sondern die alten Strukturen durch ihre Begeisterung neu beleben. Vor kurzem hatten wir nur eine Probe vor dem Konzert, haben alles nur angespielt, bis der erste Geiger aufgestanden ist und mich fragte, ob wir nicht weiterproben wollten. Ich habe darauf verwiesen, daß die Zeit abgelaufen sei. Aber die Antwort war: ,Das macht doch nichts.' Vor einigen Jahren wäre das undenkbar gewesen."

Die neuen Strukturen sind in der Welt der Barockmusik längst gang und gäbe. Schon vor Jahrzehnten hat sich der Dirigent Nikolaus Harnoncourt als Cellist von den Wiener Sinfonikern verabschiedet, sich für eine eigene Dirigentenkarriere entschieden und das "Concentus Musicus" gegründet - heute ist es eines der besten Orchester und Harnoncourt einer der besten Dirigenten der Welt. Und auch Ton Koopman hat mit dem "Amsterdam Barockorchester" die Interpretation revolutioniert: "Die Idee der historischen Aufführungspraxis wäre in großen, etablierten Orchestern nie durchsetzbar gewesen", sagt er, "heute gehören die Erkenntnisse, die wir in unserer Nische gemacht haben, zum Selbstverständnis aller Ensembles."

Harnoncourt und Koopman haben das Orchester-Establishment aus der Nische erobert, Barenboim und Abbado entdecken erst jetzt die Möglichkeiten des kleinen Klanges. Für eine neue Dirigentengeneration, für Paavo Järvi, Gustavo Dudamel oder Alexander Liebreich, ist der Grenzgang zwischen kleinen und großen Ensembles dagegen längst selbstverständlich. Es ist wahrscheinlich nur eine Frage der Zeit, bis das "Royal Concertgebouw Orchestra" Alexander Liebreich einlädt, damit er von seinen neuesten Abenteuern erzählt.

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