Ein Mann mit Eigenschaften

nzz.ch
30.05.2017
Peter Hagmann

Der 54 Jahre alte Este Paavo Järvi wird zur Saison 2019/20 neuer Chefdirigent des Tonhalle-Orchesters Zürich.






Viel zu erfahren war nicht an der kurzfristig auf gestern Nachmittag einberufenen Pressekonferenz der Tonhalle-Gesellschaft Zürich, aber immerhin gab es frohe Botschaft. Nämlich die, dass Paavo Järvi von der Spielzeit 2019/20 an als Chefdirigent und Künstlerischer Leiter beim Tonhalle-Orchester Zürich tätig sein wird. Ein Dreivierteljahr nach der Meldung, dass Lionel Bringuiers Vertrag mit dem Orchester Mitte 2018 auslaufen werde, ist die Nachfolge geregelt.

Ganze Arbeit geleistet hat da eine Findungskommission, die aus dem Vizepräsidenten Hans-Georg Syz und Peter Haerle, dem Leiter der städtischen Kulturabteilung, aus der Intendantin Ilona Schmiel und Marc Barwisch, dem Chef des Künstlerischen Betriebsbüros, sowie aus dem Konzertmeister Klaidi Sahatçi und dem Solohornisten Ivo Gass bestand. Über siebzig Namen hätten auf der ersten Liste gestanden, berichtete Ilona Schmiel, am Schluss sei ein einziger Kandidat geblieben. Mit dem hat es geklappt – und das Orchester, das erwiesen erste Reaktionen, ist mehr als zufrieden.

Der Einstieg in den auf fünf Jahre ausgelegten Vertrag erfolgt fliessend. Im Januar 2018 wird Paavo Järvi mit dem Estonia Festival Orchestra in der Tonhalle Maag gastieren, in der Saison darauf wird er für drei Wochen nach Zürich kommen. Nach seinem offiziellen Amtsantritt zu Beginn der Saison 2019/20 erfolgt ein langsamer Aufbau der Präsenz auf das Niveau, das auch David Zinman erfüllt hat – so versichert es Martin Vollenwyder, der Präsident der Tonhalle-Gesellschaft. Die Engagements, die Järvi bereits wahrnimmt, bleiben vollumfänglich bestehen. Er wird weiterhin das von ihm gegründete Orchester in seiner estnischen Heimat betreuen, dem NHK Symphony Orchestra Tokio verbunden bleiben und auch am Pult der Kammerphilharmonie Bremen stehen. Zürich, so Järvi in der Pressekonferenz, werde er aber zur Priorität machen; er werde dort alles geben, was er zu geben vermöge.

In die Karten liess sich der designierte Chefdirigent nicht blicken. Der Vertrag sieht Konzerte in Zürich, Tourneen sowie CD-Einspielungen vor – so war es auch bei Lionel Bringuier. Ein kleiner Unterschied lässt indes aufhorchen. Während Bringuier in den Unterlagen der Tonhalle-Gesellschaft bloss als Chefdirigent des Orchesters genannt wird, gilt für Paavo Järvi wieder die ehedem gültige Doppelbezeichnung als Chefdirigent und Künstlerischer Leiter.

Das heisst, dass Järvi nicht nur für seine eigenen Auftritte verantwortlich zeichnen, sondern auch auf das Programm insgesamt Einfluss nehmen wird. Dies natürlich in enger Abstimmung mit der Intendantin Ilona Schmiel, die längst bewiesen hat, dass sie mehr ist als Organisatorin und Verwalterin. Paavo Järvi betont denn auch, dass selbst beim Musizieren im Orchester die Zeiten des autoritären Gebarens vorbei seien, auch hier müsse das Tun auf einem Gefühl der Gemeinsamkeit beruhen.

Solche Denkansätze sind nicht ganz selbstverständlich für einen Musiker, der einer der beiden bestimmenden Dirigenten-Dynastien Europas entstammt. Die einen sind die aus Russland stammenden Jurowskis mit dem Vater Mikhail und seinen beiden Söhnen Vladimir und Dmitri, die andere die estnischen Järvis mit dem Vater Neeme und seinen Söhnen Paavo und Kristjan. Es sei für ihn keine Frage gewesen, dass er Musiker, ja Dirigent werden würde.

Am 30. Dezember 1962 in Tallinn geboren, begann er in seiner Heimatstadt mit dem Studium der Musik: als Schlagzeuger und als Dirigent. 1980 reiste er mit der gesamten Familie in die USA aus, wo er seine Ausbildung am Curtis Institute of Music und bei Leonard Bernstein weiterführte. Amerika ist ihm inzwischen zur Heimat geworden.

Seine erste Position als Orchesterchef führte Järvi in den späten neunziger Jahren zu den Stockholmer Philharmonikern. In der Folge nahm er leitende Funktionen beim Cincinnati Symphony Orchestra, beim hr-Sinfonieorchester in Frankfurt am Main sowie beim Orchestre de Paris ein. 2015 folgte dann die Amtsübernahme als Chefdirigent des NHK Symphony Orchestra in Tokio.

Besonders eng ist freilich die Beziehung zur Deutschen Kammerphilharmonie Bremen, der er seit 2004 als Künstlerischer Leiter vorsteht. Mit diesem Orchester hat Järvi einen Zyklus der neun Sinfonien Ludwig van Beethovens erarbeitet, der in den Konzerten und noch mehr mit den CD-Aufnahmen weitreichende Resonanz gefunden hat. Die Interpretationen leben von einem scharfkantigen, auf Transparenz fokussierten Klangbild und lassen das eruptive Potenzial der Musik Beethovens in einem hohen Mass fühlbar werden. Mit diesen Aufnahmen im Ohr lässt sich leicht ausmalen, dass dem Tonhalle-Orchester Zürich spannende Zeiten bevorstehen – zunächst noch im Maag-Areal, ab Herbst 2020 dann wieder im angestammten Saal.

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